Michael Grisko: Zwischen den Zeiten

Vom Automechaniker zum politischen Spielfilmregisseur zum TV-Handwerker
Wolfgang Staudte hat sein Leben konsequent dem Film gewidmet. Geboren im Jahr 1906 erlebt er Film, Radio und Presse nicht als etwas Neues, sondern als etwas der zeitgenössischen Kultur Immanentes. Gleichzeitig wächst er in einem politischen Zeitalter auf, erlebt als junger Mann die Wirrnisse der Weimarer Republik, den Machtantritt der Nationalsozialisten als Einschnitt in seine gerade beginnende Karriere beim Theater und heim Film. Diese beiden gesellschaftlichen Parameter prägen sein Leben und künstlerisches Werk.
Die in diesem Band abgedruckten Essays nähern sich aus unterschiedlichen Fragestellungen dem Werk und der Person Wolfgang Staudtes und sind aus den Einführungen zu den Filmen während der Retrospektive anlässlich seines 100. Geburtstages im Filmmuseum Potsdam entstanden. Es ist ein Versuch, den ganzen Staudte in den Blick zu bekommen, nicht nur den jungen, politischen oder handwerklich versierten. Darüber hinaus werden zwei Interviews zum ersten Mal in gedruckter Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, zum einen ein Auszug aus Gesprächen, die Malte Ludin mit Wolfgang Staudte im Zuge der Vorbereitungen seines Dokumentarfilms Kein Untertan (1976) führte, und zum anderen ein Rundfunkinterview mit dem DEFA-Produzenten Albert Wilkening aus dem Jahr 1966. Er war - und dies macht ihn auch im Rückblick so besonders - immer ein gesamtdeutsch denkender Regisseur und ein ebenso angesehener. Dies verdeutlicht die Tatsache, dass dem Regisseur im 1966 im ostberliner Filmverlag Henschel eine Monographie zu seinem 50. Geburtstag gewidmet wurde und dies, obwohl er schon seit Jahren nicht mehr für die DEFA arbeitete.
Ergänzt wird der Band durch eine Chronik von Christiane Grün, die in Stichworten noch einmal die Biografie Wolfgang Staudtes Revue passieren lässt.
Noch ist wenig über seine Frühzeit bekannt. In den Interviews ist immer vom Staudte die Rede, der er nach " Die Mörder sind unter uns (1946) war. Man könnte den Eindruck gewinnen, als habe sein Leben nach dem Krieg begonnen, als gäbe es auch künstlerisch eine Stunde null. In Interviews mit Malte Ludin (1976) und Albert Wilkening (1966) betont er die Notwendigkeit des engagierten Filmemachens, vor allem in der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Es scheint ein Filmschaffen ohne Vorbilder und Schule, ohne Lehrer und Hintergrund. Fragen nach Schulen beantwortet er nicht, Vorbilder nennt er nie und auch einen Stil will er nicht ausgeprägt haben. Bislang hat sich Malte Ludin als Einziger den wenig spektakulären Lebensabschnitten gewidmet, z. B. der Liebe zu den Autos, die ihn zunächst zu einer Lehre als Automechaniker führen sollte, und hat das Elternhaus versucht zu charakterisieren, vor allem seinen Vater, der ihn schließlich zur Schauspielerei und von da - über den Umweg des Werbefilms - zur Spielfilmregie brachte.~ Die Stationen in den 1930er-Jahren sind zahlreich. So synchronisiert er den Film Im Westen nichts Neues (1932), spielt als Statist in dem Sternberg-Klassiker Der blaue Engel (1930). Die große Zeit des deutschen Stummfilms erlebt er als knapp 20jähriger. Doch gibt es davon kaum direkte Spuren in seinen späteren Lebenszeugnissen, ebenso wenig wie von den russischen Revolutionsfilmen - Detlef Kannapin verweist darauf und auch die Podiumsdiskussion griff diese Spur wieder auf oder den Klassikern der sozialistischen Filmbewegung. Er blendet diese Zeit konsequent aus und doch ist sie präsent. Vielleicht kam die Aufmerksamkeit auch erst in den späten 1920er- Jahren. Zunächst anscheinend aushilfsweise und gelegentlich und doch geht der Weg immer deutlicher zum Film. Zuerst als Schauspieler und Synchronsprecher und schließlich als Werbe- und dann ab 1943 als ,ordentlicher Spielfilmregisseur’. Wer die frühen Filme sieht, erkennt den späten Staudte, viele Details treten schon früh zu Tage. So etwa in dem Film Ein jeder hat mal Glück aus dem Jahr 1933. Auf den ersten Blick eine harmlose Verwechslungsgeschichte, aber eben schon der konsequente Griff zum Komödiengenre, die Vorliebe für (Flugzeug-) Technik und besondere visuelle Auflösungen.

Auf die Spur des ‚jungen’ Film-Staudte hat sich Guido Altendorf gemacht und zeigt in seinem Essay über die bürokratische Satire Der Mann, dem man den Namen stahl (1944) die thematischen und ästhetischen Probeläufe auf dem Weg zu einem "Kino für Alle" (Altendorf). Staudte sucht den Weg über die Komik zur Erkenntnis, zur Entlarvung der Macht und deren zugrundeliegende Struktur. Diese lassen sich auch in Akrobat schö-ö-ö-n (1943) nachweisen oder in seinem Kurzfilm Ins Grab kann man nichts mitnehmen (1944). In Letzterem zeigt sich nicht nur Wolfgang Staudtes Vorliebe für literarische Vorlagen - eine Vorliebe, die in Christiane Grüns Chronik der Filmografie noch einmal deutlich zu Tage tritt und auch in den Betrachtungen zu den Filmen Der Untertan (Michael Grisko) und Dreigroschenoper (Anke Vetter) zum Tragen kommt - und sein Hang zum Genrefilm, hier zur Komödie, sondern auch der gelungene Versuch, Sprache und deren satirische Verwendung als einen wichtigen Teil des Films zu begreifen und erzähltechnisch fruchtbar zu machen.
In der sich anschließenden Podiumsdiskussion wurde zu Recht auch auf Staudtes Lehrjahre beim Werbefilm hingewiesen. Hier fand er ein Versuchsfeld für eine direkte und emotional ansprechende Filmsprache. Gleichzeitig suchen die Essays erste Antworten auf die Fragen: Welche Position nimmt Wolfgang Staudte in dieser Zeit ein? Was sind seine Vorbilder? Wo arbeitet er? Gibt es mögliche Anschlüsse für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg?
Dies ist eine zentrale Grundlage für den anschließenden Teil, denn seine Filme sind essentieller Bestandteil der deutschen Kultur der Nachkriegszeit. Sie sind auch in den 1950er-Jahren wesentlicher Bestandteil einer antizyklischen Filmästhetik, die sich nicht mit der farbenfrohen und kassenträchtigen Beschwörung restaurativer Heimatfilmideologien begnügte. Die zu beantwortenden Fragen liegen nahe, angesichts seines Zugriffs auf Ästhetik und Zeitdiskurs. Welches Geschichtsbild vertritt Staudte in seinen Filmen? Wie unterscheidet er sich von anderen Filmemachern? Was macht seine besondere Stellung im Filmbetrieb der damaligen Zeit aus? Welche ästhetischen und institutionellen Impulse gehen von ihm aus? Welche Haltung entwickelt er gegenüber dem Nationalsozialismus im Hinblick auf seine Analyse und die Entwicklung einer Haltung der Gegenwart? Diese Fragen werden nicht nur von Detlef Kannapin in seinen Betrachtungen zu dem Film Schicksal aus zweiter Hand (1949) gestellt, sondern wurden auch in der Podiumsdiskussion immer wieder aufgeworfen. In dieser Zeit ist Staudte eng mit der DEFA und den Filmstudios in Babelsberg verbunden. Hier und in der näheren Umgebung entstehen Die Mörder sind unter uns (1946), Rotation (1948) und sein wohl bekanntester Film Der Untertan (1951). In dem Essay von Michael Grisko werden die historischen Wahlverwandtschaften deutlich. Neben den literarischen Bezügen und den Werkkontexten eröffnet der Beitrag - am Beispiel des Films Der Untertan - die filmhistorischen Bezüge Wolfgang Staudtes.
Dass Staudte über die Analyse der Gegenwart auch an gesellschaftlichen Phänomenen insgesamt interessiert war, verdeutlicht Detlef Kannapin in seinem Beitrag zu dem Film "Schicksal aus zweiter Hand". Weniger die kaum lokalisierbare Handlungszeit, als vielmehr das Phänomen Irrationalismus interessierten Staudte und ließen einen Film entstehen, der nur ganz beiläufig das Thema Politik zu streifen schien und dennoch einen zentralen Punkt der deutschen Mentalitätsgeschichte berührte.
Alle Analysen haben eins gemeinsam: Sie sehen in Staudtes Filmen eine außergewöhnliche visuelle Kraft. In dem Interview mit Malte Ludin betont Wolfgang Staudte, der Stil ergäbe sich aus dem Thema. Es gilt jedoch festzuhalten, dass Staudte ein Meister aller szenisch-dramaturgischen Mittel des Films ist, und er weiß das Mittel der Montage, der Bild-Bild- Montage, der Text-Bild-Montage so einzusetzen, dass sich immer wieder neue und überraschende Konstellationen ergeben, der Zuschauer immer aufgefordert bleibt, aktiv mitzusehen und mitzudenken. Ein lediglich passiver Konsum seiner Filme scheint kaum möglich. Mit dem Blick auf seine Zeit zwischen der DEFA, Westdeutschland und Holland soll nicht nur die Frage nach der zunehmenden Politisierung des Werks und der Person weitergeführt werden, sondern auch die Frage nach Staudtes ästhetischen Strategien im Spannungsfeld von Unterhaltungskino und der Analyse deutscher Gegenwart im Kino und im Fernsehen aufgeworfen werden.