Verteidigung des Alltags. Der Regisseur Herrmann Zschoche

Ulrich Mühe (vorne links) und Herrmann Zschoche (vorne rechts) bei Dreharbeiten zu "Hälfte des Lebens" (1985) Foto: DEFA Stiftung, Jörg Erkens, Filmmuseum Potsdam
Herrmann Zschoches Filme zogen ein Millionenpublikum in die Kinos der DDR. Vor allem seine Jugendfilme mit ihrer offenen Darstellung von erster Liebe und Sexualität und seine starken Frauenfiguren wirkten identitätsstiftend. Einige seiner Filme waren zensorischen Eingriffen ausgesetzt oder wurden verboten. Ein Aspekt der ideologisch motivierten Kritik war die ungeschönte Darstellung des Alltags. Anlässlich des 80. Geburtstages des Regisseurs haben Studierende der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF eine Foyerausstellung kuratiert. Nicht die chronologische Aufarbeitung war ihr Ziel, sondern die Darstellung thematischer Kontinuitäten unter Einbeziehung ihres persönlichen Blicks auf Zschoches Werk.

Mit freundlicher Unterstützung der DEFA-Stiftung.


Fünf thematische Ausstellungsbereiche, ein Studentenfilm von Herrmann Zschoche, ein studentischer Experimentalfilm und eine Retrospektive erwarten den Besucher:

Alltag und Frauenbilder
Nina und Christine: Zwei höchst unterschiedliche Frauen - aus den Filmen Bürgschaft für ein Jahr (1981) und Die Alleinseglerin (1987) - werden, stellvertretend für die starken weiblichen Hauptfiguren aus Zschoches Werk, vorgestellt: Frauen, die in einem spezifischen Alltag verortet sind, der sich mal als antagonistische Kraft erweist, mal von den Frauen aktiv nach ihren Vorstellungen gestaltet wird. Autorinnen kommen zu Wort, die mit Herrmann Zschoche zusammengearbeitet haben.
Gestaltet von Nicole Aebersold (Studiengang Animation)
Vergangenheit und Zukunft
Thematisiert wird Herrmann Zschoches Umgang mit der Zeit am Beispiel der Filme Eolomea (1972) und Hälfte des Lebens (1985). Der zentrale Text versucht, eine persönliche Perspektive auf Zschoches Reflexionen zu Vergangenheit und Zukunft und den zeithistorischen Kontext herzustellen. Pressezitate machen die zeitgenössische Rezeption nachvollziehbar. Plakate und Fotos illustrieren die Produktionen und verweisen zudem auf die für Zschoche und seinen Kameramann Günter Jaeuthe typische romantisch-utopische Bildsprache.
Gestaltet von Dmitry Vachedin (Studiengang Drehbuch) und Christopher Reinhardt (Studiengang Schauspiel)
Kinderwelten
Herrmann Zschoche führte bei vier Kinderfilmen Regie. Exemplarisch werden die Filme Lütt Matten und die weiße Muschel (1964) und Philipp der Kleine (1976) vorgestellt. Wie die Kinderfilmproduktionen der DEFA insgesamt, zeichnen sich auch diese beiden Filme durch hohe Ansprüche an alle Gewerke aus. In den Geschichten von den beiden Kleinen, Matten und Philipp, werden poetische Übergänge zwischen der Realität und den Phantasiewelten der Kinder geschaffen, während nächtliche Bootsfahrten und tigergroße Hauskatzen für Spannung sorgen.
Gestaltet von Doreen Töppel (Studiengang Montage)
Ideologie und Zensur
Beleuchtet wird die Situation der DEFA-Filmschaffenden, die unter ideologischen Vorgaben Filme produzierten und immer wieder entsprechenden ‚korrigierenden‘ Eingriffen oder gar Verboten ausgesetzt waren. Im Zentrum stehen die Filme Karla (1965/90) und Insel der Schwäne (1983). Zeitgenössische Publikumsmeinungen werden Protokolle der Hauptverwaltung Film im Ministerium für Kultur der DDR gegenüberstellt. Daneben vermitteln Szenenfotos Thematik der Filme und ihre Atmosphäre.
Gestaltet von Isabell Hoppe und Henrike Rau (Studiengang Digitale Medienkultur)
Liebe und Sexualität
Zwei Filme werden vorgestellt, die nur bedingt vergleichbar scheinen: Sieben Sommersprossen (1978) und Glück im Hinterhaus (1980). Da ist zum einen die erste Liebe zweier Jugendlicher mit ihrem Zauber und ihrer Märchenhaftigkeit, und zum anderen die Geschichte einer Dreiecksbeziehung von Erwachsenen, die schon viel zu lange nicht mehr an Wunder glauben und sich auch nicht mehr trauen, sie zu leben. Es sind Anfang und Ende. Was immer bleibt - die Sehnsucht, der Traum, der Wunsch nach Romantik weit über die Grenzen des Alltags hinaus -, ist, was die Geschichten verbindet.
Gestaltet von Lilli Meinhardt und Marie Luise Stahl (Studiengang Schauspiel)

EROSION (Experimentalfilm)
Vor 60 Jahren begleitete Herrmann Zschoche eine Schulklasse durch die Sächsische Schweiz und filmte sie. Doch über die Zeit verblassen die Bilder, werden durch neue ersetzt oder verlieren an Wichtigkeit. Zschoches Erinnerungen verweben sich im Film mit dem erhaltenen und vergessenen Filmmaterial sowie neuen Bildern, entstanden auf einer eigenen Wanderung der Filmemacher.
Produktion: Josephine Weyreuther; Regie: Reinaldo Pinto Almeida; Montage: Jannis Greff; Kamera: Johannes Greisle; Ton: Michael Kondaurow. Mit besonderem Dank an Ernst Hirsch und Herrmann Zschoche.

Straßen im Mai (Deutsche Hochschule für Filmkunst, 1956)
Die einzige überlieferte studentische Regiearbeit von Herrmann Zschoche. In dem Kurzfilm erhält ein Arbeiter einen Brief von seinem Bruder aus dem Westen, in dem dieser mitteilt, dass er nicht mehr zu Maidemonstrationen kommen wird. Beim Lesen entstehen aus Archivaufnahmen Erinnerungen an die Geschichte des Ersten Mai.


Jede Menge Perspektiven. Der Regisseur Herrmann Zschoche
Zur Foyerausstellung erscheint ein Sammelband, der zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Regisseur und seinen Filmen einlädt.

Die Filme von Herrmann Zschoche (*1934) zogen ein Millionenpublikum in die Kinos der DDR. Dabei lässt sich sein Œuvre nicht auf einen homogenen Inszenierungsstil, bestimmte inhaltliche Motive, wiederkehrende Figurenkonstellationen oder eindeutige Genrepräferenzen festlegen. Der Perspektivwechsel ist die Kontinuität in Zschoches Schaffen: Die kindliche Sicht auf die Welt (u.a. Philipp der Kleine, 1976) vermochte er ebenso nachzuvollziehen und zu gestalten wie die Probleme von Teenagern und die Lebenskrisen der Erwachsenen (u. a. Sieben Sommersprossen, 1978; Glück im Hinterhaus, 1980). "Weibliche" und "männliche" Geschichten wurden mit tiefer Menschenkenntnis und künstlerischer Souveränität in Szene gesetzt (u. a. Bürgschaft für ein Jahr, 1981; Weite Strassen - stille Liebe, 1969). Herrmann Zschoches Interesse galt nicht nur der Gegenwart, auch historische und utopische Filmwelten wurden von ihm geschaffen ( Hälfte des Lebens, 1985; Eolomea, 1972). Und schließlich verstand er es, mit den unterschiedlichen Schwierigkeiten des Filmemachens in der DDR und (später) in der Bundesrepublik umzugehen.

Ralf Schenk, Tobias Ebbrecht-Hartmann, Stella Donata Haag, Wolfgang Thiel, Dorett Molitor, Marius Böttcher, Anna Luise Kiss und Dieter Chill nehmen in diesem Band unterschiedliche Aspekte von Zschoches Schaffen in den Blick. Auf die Betrachtung der Studienzeit an der damaligen "Deutschen Hochschule für Filmkunst" folgen Untersuchungen über die Zusammenarbeit des Regisseurs mit seinen Kostümbildnerinnen und Filmkomponisten. Außerdem wird ein Einblick in den Bestand der "Sammlung Herrmann Zschoche" des Filmmuseums Potsdam gegeben. Weitere Themen sind die Poetik der Baustelle in Insel der Schwäne (1983) und die wiederholte Arbeit mit Laiendarstellern. Der abschließende Beitrag geht auf den Wechsel des Regisseurs von der DEFA in die Fernsehlandschaft des wiedervereinigten Deutschlands ein. Im Zentrum des Bandes steht ein Interview mit Herrmann Zschoche und einigen seiner wichtigsten künstlerischen Wegbegleiter (Christa Kožik, Drehbuch; Monika Schindler, Montage; und Günter Jaeuthe, Kamera). Das Gespräch wurde von Studierenden der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF konzipiert und geführt. Jede Menge Perspektiven also - sowohl im als auch auf das Werk des Regisseurs Herrmann Zschoche.

Der Sammelband erscheint in der Reihe FILMBLATT-SCHRIFTEN von CineGraph Babelsberg und wurde maßgeblich gefördert von der Stiftung Kulturwerk der VG Bild (Bonn). Die Publikation wurde ferner unterstützt von der DEFA-Stiftung und der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF .

9,90 € € / ISSN 1610-4048 / ISBN 978-3-936774-08-5 9
www.filmblatt.de / www.cinegraph-babelsberg.de

VG Bild, DEFA-Stiftung, Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF
VG Bild, DEFA-Stiftung, Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF