Trauerrede Wolfgang Kohlhaase

Wolfgang Kohlhaase auf der Trauerfeier für Frank Beyer



Für Frank Beyer am 11. Oktober 2006
Frank Beyer hat das Ende seiner Kindheit beschrieben.
Er war dreizehn und im Krieg zu schnell gewachsen.
Ein tausendjähriges Reich war verschwunden. Die Amerikaner kamen und gingen. Die Russen kamen und blieben.
Seine Familie, das waren kleine Leute, Sozialdemokraten. Als ihm sein Hitlerjungenhemd zu kurz geworden war, im letzten Kriegsjahr, und ein neues gekauft werden sollte, sagte seine Mutter: Nun nicht mehr.
Sein Vater aber war in Russland gefallen.

Die Schule ging weiter und das Dreisatzrechnen galt noch.
Ein Infanterieregiment marschiert in einer Stunde fünf Kilometer...
Die Schüler als neue radikale Pazifisten buhten den Lehrer aus.
Es kann ja auch russische Infanterie sein, sagte der Lehrer, der sich im Amt gehalten hatte, weil er nicht in der Nazipartei gewesen war.
Ein Onkel wurde verhaftet, zu Unrecht eines Verbrechens im Krieg verdächtigt, und war später ein gebrochener Mann. Mitschüler verschwanden, sie sollten eine Widerstandsgruppe gegründet haben. Das war schwer verständlich und dunkel. Aber zugleich gab es die täglichen enormen Abenteuer des Neuanfangs, einen Impuls, den er empfangen hat, ähnlich wie ihn damals Viele empfangen haben, für den wir im richtigen Alter waren, und der sich nicht vergessen ließ.
Mit Brechts Hauspostille wappnete er sich gegen die Romantik im Deutschunterricht, erwarb einen Schmalfilmvorführerausweis, spielte Laientheater, wurde Sekretär im örtlichen Kulturbund und wechselte an das Theater in Crimmitschau, wo er alles war: Dramaturg, Regieassistent und Inspizient. Er meldete sich an für die Theaterwissenschaft.

Dann machten ihm die neuen Verhältnisse zu seiner Überraschung den Vorschlag, Filmregisseur zu werden. Es war ein Zufall, dass er nicht in Moskau studierte, sondern in Prag, mit jenen Altersgenossen, die in den sechziger Jahren im Prager Frühling berühmt wurden.
Er kam zurück in ein Land, in dem von Kunst viel erhofft wurde, aber, wie sich zeigen sollte, auch viel befürchtet. Mit fünfundzwanzig machte er seinen ersten Film. Sieben Jahre später hatte er sieben Filme gemacht.

Leute unseres Alters waren an einem Kino interessiert, das sich an die Wirklichkeit hielt. So gut es ging, sahen wir uns nach Beispielen um, angefangen bei den Neorealisten, aber auch bei Polen, Russen, Ungarn oder Franzosen, und wir blickten kaum auf den westdeutschen Film, der seine cineastische Revolte noch vor sich hatte.

Was die DDR anging, so lebte sie mit Mängeln, denen die Politik den Mangel an Offenheit hinzufügte. Wer den Alltag beschrieb begegnete schnell Besserwissern. Es war leichter, die Geschichte zu zitieren. Das Gerede vom verordneten Antifaschismus aber trifft nicht den Punkt und trifft schon gar nicht Frank Beyer.

Seine Filme, die in der schlimmen Zeit spielen, in die seine Kindheit fiel, von Fünf Patronenhülsen bis zum Aufenthalt, brauchten keine Verordnung. Wie das Dorf, aus dem er kam, lag auch Buchenwald in Thüringen. Jurek Becker, sein Freund und Drehbuchautor, hatte ein Ghetto in Polen überlebt, und er musste daran nicht erinnert werden, damit er Jakob, der Lügner schrieb.

Die unrühmliche Veranstaltung im Jahr 65, in der die Politik sich die Wirklichkeit abbestellte, betraf Frank Beyer nicht allein. Doch von allen verbotenen Filmen wurde Spur der Steine mit einem organisierten Volkszorn am spektakulärsten verfolgt. So etwas hatte er nicht für möglich gehalten, es verletzte ihn tief und änderte seinen Blick auf die Gesellschaft. Nach dreiundzwanzig Jahren, als er seinen Film zum ersten Mal wieder sehen konnte, erwies der vor altem und neuem Publikum noch immer seine Güte und war ein Zeugnis für verlorene Chancen des Kinos in der DDR.

Er hat einige Jahre lang keine Filme machen dürfen, man hatte ihn an das Theater nach Dresden verwiesen. Von außen betrachtet mochte das als erträgliche Verbannung gelten. Für ihn hieß es, sich nach dem Sinn seiner künftigen Arbeit zu fragen und nach den Gemeinsamkeiten, die geblieben waren.
Er hat nichts aufgegeben, was ihm wichtig war. Er wollte weiter Filme machen, und er wollte es als Realist tun, mit genauem Blick auf die Umstände, wie sie waren. Von den Konflikten, die für diesen Fall bereit standen, hat er seinen Teil auf sich genommen.
Einige seiner schönsten Filme standen noch aus.

Seinen Ansichten treu, war er immer auch in Debatten verwickelt, eigene Projekte betreffend, oder öffentliche Angelegenheiten, die das Land bewegten. Er hat an Statur und Glaubwürdigkeit gewonnen, und indem er ein bekannter, angesehener Mann war, wurde nichts für ihn leichter.

Zwischen Selbstzufriedenheit und Unzufriedenheit bildeten sich im Lauf der Jahre schärfere Fronten. Das betraf nicht nur die Kunst und die Politik, das ging durch Generationen, Berufe und Lebenslagen.
Freunde gingen weg, manchmal mit schwerem Herzen.

Frank Beyer hat Gründe genannt, warum er dageblieben ist.
Er wollte ein Publikum nicht verlassen, dem er sich nahe fühlte. Er wollte den Platz der Auseinandersetzungen nicht räumen in denen er sich unter Kollegen wusste, die ähnlich dachten wie er. Und schließlich hatte er in den achtziger Jahren in der Bundesrepublik gearbeitet und ihm war bewusst, dass auch der Markt Aspekte von Zensur hat. Ideologie macht sich lautstark bemerkbar, und leise herrscht das Geld.
Zuerst oder zuletzt hatte er auch private Motive, zu wohnen wo er wohnte, die er öffentlich nicht erörtern wollte.
Er hatte sein Glück und sein Unglück auch ohne die Kunstprobleme.

Als er im Jahr 1991 den Deutschen Filmpreis für sein Gesamtwerk erhielt, sagte er in seiner Dankesrede:
...Inzwischen habe ich zwei unbewältigte Vergangenheiten, die ungefähr so alt sind, wie ich selber, eine kürzere, zwölfjährige, die ich in Filmen reichlich abgearbeitet habe, und eine längere, fünfundvierzigjährige, in der ich ziemlich verwurzelt bin. Und ich zweifle daran, dass es einen Sinn macht, diese Wurzeln auszureißen... Ich finde Ihre Entscheidung, diesen Bundesfilmpreis einem Regisseur zu geben, dessen sämtliche Kinofilme im DEFA-Studio in Potsdam Babelsberg entstanden sind, sehr bemerkenswert. Weil doch, folgt man manchen Stimmen aus den alten Bundesländern, unter den Bedingungen der Kulturpolitik in der DDR künstlerische Filme dort gar nicht entstehen konnten...

Frank Beyer war nun verdientermaßen in guter Lage, er vergaß nicht, dass es Anderen anders ging. Er konnte Filme machen nach seinen Möglichkeiten und Interessen. Nach allem war es einleuchtend, dass man ihm einen großen Stoff anbot, vier Teile Fernsehen, die "Jahrestage" von Uwe Johnson. Noch einmal deutsche Geschichte und was sie zerriss und zusammenhielt in der Zeit, die auch seine war.
Er wollte nicht mehr, als er vordem gewollt hatte.
Doch hat man ihm, ausgerechnet ihm, dann die Kompetenz bestritten, die künstlerische, moralische und letztlich politische. Er konnte den Film nicht machen. Wer ihn gepriesen hatte wegen seiner Standhaftigkeit in östlichen Strapazen, konnte zur Kenntnis nehmen, dass er es auch jetzt nicht für den Zweck aller Mühe hielt, mit der Direktion einer Meinung zu sein. Zur deutschen Vereinigung hatte er sein Gewissen mitgebracht.

Es war gut mit ihm zu arbeiten. Wir übten uns bei unseren ernsthaften Erfindungen in Heiterkeit und wenn die Geschichte, die wir uns vorstellten, eine traurige Wendung nahm, verbarg er seine Rührung nicht. Er tippte sich das Drehbuch, wenn die letzte Version entstand, mit zwei Fingern in die Schreibmaschine und lernte es dabei auswendig. Die Ehrlichkeit, um die es ihm ging, bestand auch aus der täglichen Wahrhaftigkeit. Er hatte seinen Plan und war beim Drehen doch offen für die Entdeckungen des Augenblicks, zu denen er alle ermutigte, vor allem natürlich die Schauspieler. Er sah zu und hörte zu und entschied. Ohne Eitelkeit stand er in der Mitte der Szene.

Seine Krankheit war ein langer Abschied von der Hoffnung, noch einen Film zu machen, eventuell einen komischen. Denn in unserer kunstlosen Existenz sah er immer auch die Komödie.

Eben erst haben wir vor seinem ländlichen Haus in der noch sommerlichen Sonne gesessen. Er sang mit wenig Atem ein paar Takte Operette, was er gern tat, Erinnerung an Crimmitschau. Wir redeten, was man so redet und sagten zum Abschied, was man so sagt.

So ist es wohl, lieber Frank. Der letzte Film wird nicht gedreht, das letzte Wort wird nicht gesprochen.