Anekdote Erwin Geschonneck

Schauspielschule Ackerstraße


"In mildem Lichte Jakob Apfelböck/ Erschlug den Vater und die Mutter sein...".(1) Für Freunde sang er die Moritat immer wieder gern. Mit ihr beginnt ein Stück aus Brechts "Hauspostille" und für Geschonneck war sie wohl wie ein Kinderlied über das Milieu, in das er hinein geboren wurde, im Arbeiterkiez an der Berliner Ackerstraße. Hier, wo Krise und Krieg die Verlierer hinspülten und die Armut die Menschen Mores lehrte, hieß es überleben. Das Viertel war auch ein Paradies der Kneipen, Kinos, kleinen Bühnen und Festsäle, wo Arbeiter und Handwerker Schwänke und Heimatstücke spielten und sich hinterher begeistert betranken. Erwin beneidete diese "Schauspieler", ihr derbes und lautes Treiben und bald bot sich beinahe eine erste Chance: Reinhold Schünzel drehte hier 1920 Das Mädchen aus der Ackerstraße. Er heuerte Kinder als Statisten an, die in einer Szene Reiter und Elefant spielen sollten. Erwin sollte Elefant sein, aber er wollte nicht, dass einer auf seinem Buckel reitet. Seinen Buckel nahm sich schon der Vater vor, ein Trinker, der prügelte.
Jahrzehnte später, 1958, gab Erwin selber einen betrunkenen Vater, in Der Lotterieschwede. Einen Jungen sollte er deftig ohrfeigen, was beim Proben natürlich nur angedeutet wurde. Aber als die Kamera lief, war Geschonneck, der ja Erfahrung hatte, nicht zimperlich. "Es war unmöglich, bei der Aufnahme nur so zu tun, die Reaktion sollte ja echt sein."(2) Der Junge fing erschreckt zu heulen an, aber die Szene war im Kasten. Der Kleine bekam Schokolade, anders als Erwin dazumal.(3)
Als Hausdiener, Hilfskellner, Fahrstuhlführer schlug er sich durch bis er es zum ersten Foto für die Öffentlichkeit brachte, weil er Hutmodell für "Scherls Magazin" wurde: "Der Hut war immer ein anderer, aber das Gesicht darunter war dasselbe, ein gleichgültiges, einfältiges, dummes, ausdrucksloses Gesicht."(4)
Bei Regisseur Slatan Dudow gab’s 1931 Bockwurst mit Erbsen und zwei Mark pro Drehtag. Er war endlich Schauspieler, unter 4000 Komparsen in "Kuhle Wampe". Und als er wenig später Modell stand, diesmal für eine Fotomontage von John Heartfield, zeigte sie ein böses Omen: einen auf ein Hakenkreuz geflochtenen Arbeiter. Geschonneck, der Kommunist, kam für sechs Jahre ins KZ. Als Brecht ihn später am Berliner Ensemble zu halten versuchte und anschrie, brüllte Geschonneck zurück bis der Dichter erbleichte: Sechs Jahre habe er sich von der SS im KZ anschreien lassen und das ließe er sich von niemandem mehr bieten. Und ging. Das Leben war seine Universität, darauf war er stolz, aber er sprach auch von vielen verlorenen Jahren. Vierzig war er, als sich sein Jugendtraum vom Film doch noch verwirklichte. Der Junge aus der Ackerstraße kam zu Ehren und Wohlstand, was er in vollen Zügen genoss.

1 Bertolt Brecht: Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde. In Gesammelte Werke, Bd. 8. Frankfurt/M. 1967, S. 173
2 Das Volk, 17.10.1975
3 Wochenpost, 8.2.1974, S. 15
4 Erwin Geschonneck: Meine unruhigen Jahre. Berlin 1984, S. 44 f.

Aus der Dauerausstellung "Babelsberg - Gesichter einer Filmstadt"