Kurt Tetzlaff zum Geburtstag

"Erinnerung an eine Landschaft - Für Manuela", 1983, F: Defa-Stiftung



Erinnerungen

... an eine Landschaft - zum Beispiel.
Erinnerung an eine Landschaft - für Manuela (1983) ist einer von über 50 Filmen, die Kurt Tetzlaff als Dokumentarfilmer gedreht hat. Die Titel seiner Filme sprechen oft von Bewegung und Prozessen - sind Ausdruck seiner Haltung als Beobachter der Wirklichkeit. Bei deren Schilderung nimmt Tetzlaff sich nicht aus. Das bloße Abbild interessiert nicht. Er möchte den Menschen. Die Menschen. In ihrer Zeit. Oft sind es Gruppenporträts, die markanter den Einzelnen zeigen, als eine Biographie es vermochte. Bewegungen schlagen hier stärker aus. Viele Antworten auf eine Frage. Nuancen. Und der in den Fragen durchscheinende Filmemacher. "Fragen stellen, um etwas zu bewegen", schrieb Kurt Tetzlaff in "Dokumentaristen der Welt". Eine Essenz seiner Arbeit.
"Erinnerung", "Begegnung", "Durchgang", "Übergang" - Substanzielle Titelworte. Man kann mit den Filmtiteln durch das Oeuvre Tetzlaffs reisen - es sind Brechtsche "Flüchtlingsgespräche" anderer Sammlung: der Lebenssammlung eines Umgesetzten, eines Umgesiedelten, in Pommern Geborenen und 1945 nach Querfurt Ausgesiedelten. Später wird Kurt Tetzlaff Dokumentarfilmer. Ein Teamspieler: Bilder entstehen, wenn man sich einig ist, sich versteht. Arbeitsgemeinschaft. Geteilte Erfahrung, geteilte Erinnerung.
Der Mensch muss wissen, wo er hingehört: In Erinnerung an eine Landschaft, einem in den 1980er Jahren der DDR brisanten Film zur in der Gesellschaft vieldiskutierten Umweltzerstörung, werden die Menschen aus ihren alten Dörfern und Kleinstädten, die der Braunkohle weichen müssen, in Neubauten umgesiedelt. Der Boden wird ihren Füßen entzogen. Leipzig-Grünau, zweitgrößtes Neubaugebiet der DDR: Block an Block reihen sich Wohnungen. "Grünau" muss erst noch aus dem Sand entstehen. Die Alten warten nicht, sondern pflanzen ihre verlorenen Gärten in Blumenkästen. Vor den Aufgängen der Blocks stehen die Frauen in geblümten Kittelschürzen und halten den Schwatz, der sie am alten Ort vor dem Konsum, vor der Kneipe ihre Zusammengehörigkeit fühlen ließ. "Dort war mehr Gemeinschaft". Das Dort. - Ein Satz. Ein Verlust. Eine Frage?
Sind die Menschen fort, fehlt dem Ort die Erinnerung. Ein junger Baggerfahrer zeigt in der riesigen Abbaugrube auf einen Fleck im Nirgendwo. Dort hatte er Hochzeit gehalten. Gefragt, wie es ihm beim Vorrüberfahren mit dem Daran-Denken gehe, antwortet er unemotional: Was weg ist, ist weg.
"Dokumentarfilm überantwortet die Zeit der Geschichte", sagt Tetzlaff. Und gäbe es nicht die Filme und filmbegleitenden Materialien, die dem Sehen-Wollenden Auskunft geben über Mensch und Zeit, wäre Nichts. Um dieser Angst vor dem Dunkel des "Wohers" zu entgehen, sind Tetzlaffs Filme geeignet. Er fragt nicht explizit "Warum" und ist deshalb heute noch aktuell, weil das authentische "Wie" Zeiten überdauert. Dem Sinn im Unnützen des Lebens nachzuspüren - Kurt Tetzlaff ist das in vielen Filmen gelungen.
Seine Filme sind oft angeeckt. Es drohten Nichtabnahmen durch die staatlichen Organisationen, es gab Schnittauflagen, Ablehnungen zu Festivals, Diskussionen.
Und deshalb viele Preise. Und Einladungen zu Festivals (z.B. nach Florenz mit dem Kompilationsfilm zum 100. Geburtstag Ernst Thälmanns "Das Jahr 32 - Der rote Kandidat", 1986), nach Tampere, Leipzig, Phnom Penh, Helsinki... Ohne persönliche Erinnerungen erzählen physisch überlieferte Dinge wenig. Das ihnen faktisch Anhaftende ist in einer knappen Objektbeschreibung formuliert. Devotionalien wie Preisen haftet eine Beliebigkeit an, die nicht auszuräumen ist, stehen sie als Ding unter einer Plexiglashaube. Und doch - irgendwie - liest man noch ein Wort hier oder sieht eine Foto dort, bricht eine Ahnung ein ins Egale, eine Ahnung vom Wofür und Wie.
Die Wichtigkeit, die das Publikum mit dem "Findling" (Preis der Filmclubs für Erinnerung an eine Landschaft) diesem Stoff und seiner Rezeptionsmöglichkeit zuschrieb, ist der Dank an die Macher, der Dank für den Film, der Dank für das Gesagte und nicht zuletzt für die mit dem Film gezeigte Haltung der Filmemacher.

Die Mitarbeiter des Filmmuseum Potsdams gratulieren Kurt Tetzlaff sehr herzlich zum 85. Geburtstag.

Das besondere Objekt:
"Der Findling", Preis der Filmclubs der DDR für Erinnerung an eine Landschaft - Für Manuela



Geboren in Tempelburg/ Pommern. 1945 Umsiedlung nach Querfurt. Abitur 1952. Von 1952 bis 1955 Dramaturgie-assistent/Dramaturg im DEFA-Studio für populärwissenschaftliche Filme. Von 1955 bis 1960 Regie-Studium an der Deutschen Hochschule für Filmkunst Potsdam-Babelsberg ("Auf einem Bahnsteig", "Solang noch unter'n Linden", Diplomfilm: "Die erste Seite einer Chronik"), von 1961 bis 1990 Regisseur und Autor im DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Von 1964 bis 1969 auch Dozent an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg und seit 1977 Vorsitzender des Künstlerischen Rates des DEFA-Studios für Dokumentarfilme (Babelsberg). Von 1973 bis 1984 Mitglied des Komitees der Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche. 1975 Inszenierung des Spielfilms "Looping" im DEFA-Studio für Spielfilme, Autor für Animationsfilme.

Auszeichnungen/Preise
Nationalpreis der DDR: 1981 für schöpferischen Beitrag zur Weiterentwicklung des Dokumentarfilmschaffens.1956, Wien: 2. Preis für "Auf einem Bahnsteig"; 1962, Helsinki: Bronzemedaille für "Die erste Seite einer Chronik"; 1963, Leipzig: Sonderpreis des FDGB für "Im Januar 63"; 1967, Leipzig: Sonderpreis der Internationalen Demokratischen Frauenföderation für "Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden"; 1969, Halle: Preis der Jugendjury und Preis des Nationalen Zentrums für Kinderfilm für "Die Störche bleiben in Buchara"; 1969, Phnom Penh: Preis der Universität Phnom Penh und 1971, Budapest: Bronzemedaille für "Die Erde wird blühen"; 1971, Leipzig: Goldene Taube für "Wer - wenn nicht wir"; 1973, Moskau: Preis der Jugend der Sowjetunion für "Auf bald in Berlin"; 1976, Leipzig: Silberne Taube für "Alltag eines Abenteuers"; 1976, Leistungsvergleich DDR: Diplom für "Begegnungen an der Trasse"; 1978, Tampere: 1. Preis für "Ich werde Artist"; 1980, Leipzig: Hani-Jawnarieh-Preis der PLO für "Die Kinder Palästinas"; 1983: Preis der Filmclubs "Findling" für "Erinnerung an eine Landschaft - Für Manuela"; 1986, Leipzig: Spezialpreis des VFF für "Im Jahr 1932 - Der rote Kandidat"; 1987, Florenz: Preis des Premio del Ministerio della Pubblica Istruzione für "Im Jahr 1932 - Der rote Kandidat"; 1990, Nyon: Preis der Jugendjury und Preis der Television-Schweiz für "Im Durchgang - Protokoll für das Gedächtnis"; 1994: Journalistenpreis des National-Komitees für Denkmalschutz für "Die Garnisonkirche - Protokoll einer Zerstörung".

Filme
Der Kurpatient (1963; BU), Kampf um Höhe 208 (1963; Co-BU), Der Herr von außerhalb oder »Der Schlag ins Kontor« (1963; Co-BU, -TE), Im Januar 63 (1963; Co-BU), Es genügt nicht, achtzehn zu sein (1964; verboten bis 1990; BU, TE), Das Märchen von Jens und dem Kasper (1965; Co-BU, -TE), Jens und Fiaza (1966; BU), Guten Tag - das sind wir (1966; Co-BU), Die Mannschaft (1966; BU, TE), Die Verantwortung (1966; BU), Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden (1967; Co-BU, -SZ), Es wird keinen Krieg mehr geben (1968; BU), Die Erde wird blühen (1969; BU), Die Störche bleiben in Buchara (1969; BU, Co-TE, MB), Paule - Porträt eines Jungen (1970; BU, Co-TE), Im Auftrag der Klasse (1971; Co-BU), Wer, wenn nicht wir (1971; Co-BU), Traktoren¬werker (1972; Co-BU, -TE), Auf bald in Berlin (1973; BU, Co-SZ), Begegnung an der Trasse (1976; Co-BU, -TE), Alltag eines Abenteuers (1976; Co-BU, -TE), Ich werde Artist (1977; Co-BU, -TE), Er hat Vorschläge gemacht (1978; Co-BU, -TE), Die Pflaumenbäume sind wohl abgehaun (1979; BU, TE), ...und sie bewegt sich doch (1980; Co-BU, -TE), Die drei anderen Jahreszeiten (1980; Co-BU, -TE), Die Kinder Palästinas (1980; Co-BU, -TE), Gifts (1981; Co-BU), Das Atelier (1982; Co-BU, -TE), DEFA Kinobox Nr. 11 (1982; Sujet), Erinnerung an eine Landschaft - Für Manuela (1983; Co-BU, -TE, -SZ), Dialog mit einem Bauern (1984; Co-BU, -TE), Wo ein Wille ist... (1986; SZ), Im Jahr 1932 - Der rote Kandidat (1986; Co-BU, -SZ), Lebenszeichen - Notizen über Erwin Geschonneck (1986; Co-BU, -TE), I'm a Negro. I'm an American - Paul Robeson (1990; Co-BU, -TE), Im Durchgang - Protokoll für das Gedächtnis (1990; Co-BU, TE), Im Übergang - Protokoll einer Hoffnung (1991; BU, TE), Die Garnisonkirche - Protokoll einer Zerstörung (1992, BU, TE), Entdeckungen im Havelland (1992; BU, TE), Leben im besetzten Haus (1993; BU, TE), Es tut sich was auf der Burg (1993; BU, TE), Rokoko '93 (1993; BU, TE), Anmerkungen zu DDR-Kunst (1994; BU, TE), Der lange Abschied von Chemnitz (1994; Co-BU), Bis die Russen kamen - Kriegsende in Mitteldeutschland (1995; BU, TE), Am Rande eines Krieges - Der ungarische Aufstand 1956 (1996; Co-BU, -TE), Was geht Sachsen-Anhalt Fontane an (1998; BU), Leben in Haidemühl - Schulgeschichten (1999; BU, TE),