Aus der "Der ungeteilte Himmel"

Der gute Mensch vom Dienst


Alfred Müller
Geboren 1926
Alfred Müller - Foto: Sandra Bergemann
(…) Im Gegensatz zu den meisten Leuten hatte ich, als die Wende kam, so gut wie keine Hoffnungen. Ich erlebte in meinen jungen Jahren, wo man langsam anfängt zu sehen und zu erkennen - so zwischen 1930 und 1938 -, diese Hoffnungslosigkeit und diese Armut zu Hause. Mein Vater fuhr nach langen Jahren der Arbeitslosigkeit mal Taxi, mal ein Baufahrzeug in der Saison; erst 1935 bekam er bei Siemens eine Anstellung in einer Reparaturwerkstatt für Radios, bis er dann später die Sprechanlagen in Peenemünde installierte. Wohin uns dieser Aufschwung der Nazis geführt hat, wissen wir alle.
Diese Verhältnisse wollte ich nicht mehr. Ich wollte etwas anderes. Durch meine Gastspieltätigkeit war ich oft in westlichen Ländern, habe viel gesehen und vor allem wiedererkannt. Ich war nicht mehr scharf darauf. Aber dann schrien alle: »Wir sind ein Volk!« Ich nicht. Ich hatte keine Verwandten im Westen, deshalb störte mich die Mauer nicht besonders. Mein Leben fand hier statt. Hier lernte ich meinen Beruf, hatte meine Arbeit und mein Publikum und baute eine Familie auf. Hier war ich glücklich. Aber ich begreife schon, dass viele Familien auseinandergerissen wurden und Konflikte entstanden sind.
Als dann die Wende kam, wusste ich, jetzt ist wieder alles so wie zu Vaters Zeiten.
(…)
Es gab nach der Wende zwei Möglichkeiten: völlig auszusteigen oder sich neu zu organisieren. Also war mein erster Weg zur Berliner Agentur ZBF. Man musste sich ja irgendwo registrierten lassen, denn die Agenturen übernahmen jetzt die Verhandlungen. So etwas gab es vorher bei uns gar nicht. Ich war nun zufällig der Erste, weil ich in der DDR der einzige Freischaffende auf meinem Gebiet war. Ich ging nach West-Berlin, und dort sagte man mir: »Es tut uns leid, es kennt Sie niemand, Sie haben hier keinen Marktwert, ich könnte Sie also schwerlich vermitteln.« Anderen Schauspielern ging es ähnlich. Das war natürlich ein Tiefschlag, der uns alle traf, weil wir dachten, wenigstens in Berlin müssten sie doch einigermaßen über uns Bescheid wissen. Aber wir interessierten sie nicht im Geringsten. Darauf folgte verständlicherweise ein ziemlicher Durchhänger.
Da für mich Klinkenputzen nicht in Frage kam, ging es nur über ehemalige Arbeitsbeziehungen weiter. So drehte ich mit Günter Meyer »Sherlock Holmes und die sieben Zwerge«, den letzten großen Kinderfilm, der im Auftrag des DFF in Babelsberg entstand. Oder Helmut Straßburger, der bei der Volksbühne am Luxemburgplatz abgewickelt worden war, ging in seine Heimatstadt Dessau und besetzte mich dort als Hauptmann von Köpenick, mit dem wir später dann auch in Hagen in Westfalen gastierten. Das waren alles schöne Arbeiten. (…)


Eigentlich wollte ich Clown werden, ein Clown auf dem Pferd


Rolf Hoppe
Geboren 1930
Rolf Hoppe - Foto: Peter Warnecke
(…) Im Herbst 1989 war ich in Dresden. Dass die DDR so schnell untergehen würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich war bei den Demonstrationen immer dabei, aber im Grunde genommen habe ich meine Kinder gesucht, weil ich Angst hatte, dass ihnen etwas passiert. Es war alles so wirr und ein solches Durcheinander ... Auch ich war am 4. November 1989 auf dem Alex. Ich wollte die DDR verändern, aber dass dieser Staat, diese DDR nun überhaupt nicht lebensfähig ist, habe ich nicht gewusst. Das war wieder so eine ähnliche Situation wie 1945: Das Leben muss anders werden. Nur, nach Stalins Tod hatte ich etwas gegen Parteien und vor allem gegen eine, die immer recht hatte und Parteidisziplin forderte. Und da konnte ich auch glücklich sein in meinen Enklaven Theater und DEFA. Das war für mich immer überschaubar, und da waren die Menschen auch unterschiedlich. Bitteschön, Traumland, aber es waren gute Träume darunter. Nach 1990 habe ich mein Leben weitergelebt. Natürlich hat man mir nahegelegt, dass ich in Rente gehen sollte, weil ich ja ein DEFA-Schauspieler war, aber das lehnte ich ab nach der Devise: Wer arbeiten will, bekommt Arbeit. Und ich hatte zu tun. Meinen Anspruch konnte ich dann nicht mehr halten, ich musste Geld verdienen und habe mich in Serien verdingt, was ich nie machen wollte.
Ich bekam drei Angebote: »Der Nelkenkönig«, ein Reeder aus Hamburg. Da sagte ich mir: »Nee, du gehst lieber zu ›Alles Glück dieser Erde‹.« Das waren dreizehn Teile, das war nicht einfach für mich, auch deshalb, weil ich an Kollegen gewöhnt war, die meine Sprache sprachen. Ich kam eben mit Menschen zusammen, die über ihren Beruf eine andere Auffassung hatten. Sie waren Fernsehdarsteller. Es war kompliziert, aber ich dachte mir: Du musst arbeiten.
Ich wollte mich immer einbringen. Ponto war mein Vorbild, und mein Ziel war es schon, den Theaterschauspieler auf die Leinwand zu bringen. Ich wollte immer gern ein anderer sein, mit allen Mitteln, mit Maske und Gang. Von Ponto habe ich mitbekommen, dass man mit wenig Text eine ganze Rolle ausfüllen kann. Und alle W’s der Schauspielerei erfüllt werden, also: Wo komm ich her, wo geh ich hin, was will ich hier, wer bin ich, und so weiter ... Ich wurde dafür ein bisschen verlacht, aber ich bin der Meinung, das geht. Sogar in einem »Tatort« wie dem, wo ich den alten Doktor spielte, der auf der Leipziger Pferderennbahn arbeitet, »Tödlicher Galopp«, oder in einer »Tatort«-Folge von Markus Fischer über einen Hauptkommissar, der ein Mörder ist, »Der Spezialist«, und in »Parteifreunde« mit Manne Krug. (…)


»Der James Dean des Ostens«. Da hat es bei mir geknackt


Peter Reusse
Geboren 1941
Peter Reusse - Foto: Sandra Bergemann
(…) Es gab ein ziemlich reiches Vorfeld zur eigentlichen Wende 1989. Indessen ist ja bekannt, dass die Theater eine der wichtigen Geburtsstätten der Wende waren. Im Deutschen Theater wurde die Idee vom 4. November geboren, und zwar von keinem Geringerem als Gregor Gysi. Der stand auf der Bühne und sagte: »Sie werden sich wundern. Es gibt in der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik einen Paragraphen, der Demonstrationsfreiheit gewährleistet.« Keinem war das bekannt. Demonstrieren war für uns immer der 1. Mai. Und Gysi sagte: »Da steht klipp und klar, dass jeder das Recht hat, wenn er die normalen Rituale einhält, eine Demonstration zu veranstalten.« Aus dieser in seiner locker-flockigen Art fallen gelassenen Bemerkung wurde dann das, was noch keiner erahnte. Wir sind dann morgens um sieben mit der Polizei zusammengekommen, und man hatte sich geeinigt: keine Uniformen, wir ordnen alles selber. Wir malen uns Schärpen, da steht drauf: »Keine Gewalt!«, Farben: gelb-grün. Wir sagten, wir regeln alles selber. Wenn uns etwas entgleist und es tauchen Uniformen auf, geht alles schief, was wir wollen und vorhaben und zu installieren versuchen. Dann passiert das, was die Gegner nur wollen. Die Herrschaften, die das Sagen hatten, waren ja damals zu allem bereit und akzeptierten unseren Vorschlag.
Wir standen an diesem 4. November morgens vor dem Kaufhaus am Alexanderplatz, das war der Startplatz. Irgendein Profi hatte gesagt, dass man Demos immer eine halbe Stunde früher anfangen muss, weil sonst diese Menschenwelle drückt und der Raum frei sein muss. Wir standen vorn, eine Handvoll Schauspieler mit diesem großen Spruchband: »Protestdemonstration«. Das war unser ganzes Rüstzeug.
Und es kamen die japanischen Kameras zuhauf, am Vorabend hatte Krenz eine Regierungserklärung gegeben und wir sollten sofort Stellung nehmen. In Englisch ... Englisch, wer kann denn Englisch, Käthe Reichel, du? Ich mit meinem Schulenglisch vor die Kamera, nee ... Die Revolutionäre waren überfordert. Sie hatten sich alles sehr gut ausgedacht. Sie wollten ein Zeichen setzen und das ausreizen, was ihnen zugestanden wurde. Aber die Revolutionäre hatten es noch nie gemacht.
Mit am interessantesten an der ganzen Geschichte ist - es war ja alles wahnsinnig interessant: »Wie fängt man jetzt eigentlich eine Demonstration an?« Wir kannten es bisher nur mit Bumbumbum-Blasmusik und Festrednern. Da standen wir, und es war totenstill. Wir flüsterten und guckten uns an und sagten: »Gehen wir jetzt los?« Hinter uns ein paar Kollegen, und danach alles sehr ausgedünnt. Kann man das überhaupt? Totale Ratlosigkeit, wir sind dann einfach mal losgelatscht, und die Presseleute schalteten ihre Kameras und Mikrofone ein, und wir guckten ein bisschen entschlossen, aber sonst hatten wir nichts zu bieten. Und wir kamen zum Palast-Hotel, zum heutigen Schlossplatz, unterwegs sahen wir Studenten, die die Volkskammer mit Tapete zuklebten. Anlass: Hagers Tapetenspruch. Ich weiß noch, am Palast-Hotel bin ich auf einen Briefkasten gestiegen und sagte zu meinem Kollegen Tommy Neumann, der neben mir ging: »Du, ich gucke mal, ob überhaupt welche hinter uns sind.« (...)


Wir dienten und wir fanden uns ungeheuer


Ursula Werner
Geboren 1943
Ursula Werner - Foto: Sandra Bergemann
(…) Im Spätsommer 1989 hatte ich mich im »Neuen Forum« eingeschrieben, und wir fanden am Gorki-Theater einen Trick - wahrscheinlich als erstes Berliner Theater -, mit Zuschauern über die Zustände in der DDR zu sprechen. Wir setzten unsere Publikumsgespräche fort, wir hatten mit Hetterle besprochen, dass wir mit den Zuschauern reden wollten. Zu diesem Zeitpunkt kursierte schon der Aufruf der Schriftsteller, den ließen wir vergrößern, hängten ihn ins Foyer und unterschrieben ihn alle. Hetterle sagte, er dürfe keine öffentlichen Versammlungen im Theater zulassen, aber man könne sie mit den Zuschauergesprächen koppeln. Wir setzten uns also Abend für Abend zusammen, sagten zwei Sätze über das Stück und die Inszenierung, und dann sprachen die Leute über die Tafel im Foyer mit unseren Unterschriften. Sie wollten wissen, weshalb wir unterschrieben hatten. Das waren spannende Gespräche. Da wurden das erste Mal in einem Staatstheater - in der Gethsemanekirche und der Sophienkirche lagen ja schon Bürgerbewegungsschriften aus - die Forderungen des Neuen Forums verlesen. Dass überall die Lauscher waren, wusste man ja. Aber irgendwann konnte man an den Dingen nicht mehr vorbeigehen.
Mitglieder aus allen Theatern hatten sich am 7. Oktober 1989 in der Volksbühne versammelt, wir sind nicht zum Jubelmarsch angetreten. Auf dieser Zusammenkunft berieten wir, was wir machen wollen. Ich erzählte über unsere Zuschauergespräche, und die anderen Theater zogen nach. Ich gehörte zu den sogenannten Vierern vom 4. November 1989, die eine bessere DDR wollten. Die Wiedervereinigung war mir sehr suspekt. Ich befand mich in dieser Gruppe, die immer Botengänge machte und die neuesten Nachrichten oder die nächsten Verabredungen übermittelte. Über diese Zeit wird noch geschrieben werden, es dauert noch ein bisschen, alles muss sich setzen. Aber das kommt. Allein über diese Demonstration am 4. November, so etwas habe ich noch nie erlebt. Diese stille Demonstration! Wenn man nicht schon heulte, dann war man nahe dran. Weil man plötzlich merkte, was das für eine Kraft hatte. Es kamen ja viel mehr Menschen als erwartet. Das war wie eine Woge, die einen mittrug. Und ich dachte wirklich, wenn man die DDR ein bisschen aufklappt und die Leute rauslässt, damit sie selbst sehen, was gehauen und gestochen ist, kann man das Land reformieren. Aber Karl Gassauer, der Regisseur, den ich so schätze, sagte: »Uschi, das ist eine Illusion. Ihr seid Künstler und denkt über Möglichkeiten nach, aber die meisten Leute wollen die Mauer weg und die D-Mark haben.« Das war vorprogrammiert. Wir haben geträumt. Ich schnitt mir ein Bild aus, mit de Maizière und Kohl. Der Kohl guckt auf den kleinen Mann herunter und grinst. Das ist für mich ein Synonym für Wiedervereinigung. Für Vereinnahmung und Übernahme.
Zwölf Jahre sind seitdem vergangen. Beruflich hat es sich Gott sei Dank für mich nicht dahingehend verändert, dass ich keine Arbeit mehr habe. Davon wurden so viele betroffen und auch so viele Kollegen. Das hat sie in Verzweiflung gestürzt und teilweise kaputtgemacht hat. Indessen ist meine Arbeit aber ganz anders geworden, zum Teil auch beliebiger. (…)


Mit Anstand alt zu werden, kann es nicht sein


Renate Blume
Geboren 1944
Renate Blume - Foto: Günter Linke
(…) Die Wende und die Zeit davor erlebte ich wie eine Art Eiszeit. Alle bemerkten doch voller Sorge, wie sich das zuspitzt. Ich hatte in meinem Freundeskreis auch Leute, die in der Wirtschaft arbeiteten und die sagten: »Es ist vorbei.« Und dann die Stimmung, die entstand, als die Botschaften besetzt wurden und es hieß, es wird Reiseerleichterungen geben! Wir standen am Drehort und sagten: »Das wär’s doch.« Ich wollte eine andere DDR, ich wollte einen Pass haben. Und wir dachten noch: »Visum für 30 Tage - müssen wir die alle auf einmal nehmen oder kann man die auch splitten?« Solche Lappalien diskutierten wir damals und glaubten aber doch nicht richtig daran. Klar war nur, dass irgendetwas geschehen musste. Ich arbeitete zu der Zeit gerade an einem schönen Stück und bemerkte den ideologischen Druck, die Beengung gar nicht so sehr. Ich spielte in dem Fernsehfilm über Einstein, »Albert Einstein«, der mich faszinierte. Ich spielte eine Frau, die ihn kannte. Es gab sie wirklich, sie hieß Tabea Mandel. Für diese Rolle lernte ich Cello spielen, zumindest so weit, dass ich die Saiten greifen konnte, damit es echt aussah. Die Cellolehrerin kam in meine Wohnung. Also ich hatte eine tolle Aufgabe und war abgelenkt, wie wir uns immer ablenken lassen, wir Künstler. Auf der anderen Seite gab es die große Hoffnung, dass sich etwas ändert und auch die Gewissheit, dass sich etwas ändern muss. Die Frage war nur: Wie?
Dass ich vielleicht nicht mehr Mitglied des Fernsehensembles sein würde, habe ich erst im neuen Jahr begriffen. Für mich war die Öffnung der Mauer am 9. November 1989 nicht gleichbedeutend mit der Bildung von Gesamtdeutschland, weil man das mit der Währung nicht anders hinbekommt. Ich dachte, der Krieg hat zwei deutsche Staaten hinterlassen. Ein Pole kann auch nicht sagen: »Ich will es jetzt genauso wie die.« Die DDR war mein Zuhause, und da wollte ich auch bleiben. Für mich wäre eine Konföderation vorstellbar gewesen. Ich war gerade in Bremen und habe, als es diese Resolutionen gab, mit dem Spruch »Wir sind ein Volk« noch eine Karte an die Initiatoren des Konföderationsgedankens geschickt, damit meine Unterschrift mit dazu kam. Ich wollte, dass die DDR weiter existiert. Und alle fanden mich naiv und sagten: »Die gehen alle weg«, und ich erwiderte: »Die können gar nicht alle weggehen, weil es gar nicht so viele Wohnungen und Arbeitsplätze gibt. Die werden hier bleiben. Wir haben doch jetzt, was wir wollten, und weshalb kann es denn nicht zwei Modelle geben.« Ich bin bis heute der Meinung, dass diese Wiedervereinigung viel zu überstürzt war und danach alles platt gemacht wurde. (…)


Ich muss nicht mehr sagen: »Lasst mich den Löwen auch noch spielen«


Jörg Gudzuhn
Geboren 1945
Jörg Gudzuhn - Foto: Sandra Bergemann
(…) Die Wendezeit am Deutschen Theater war aufregend, einige meiner Kollegen haben die große Demonstration am Alex mit organisiert. Ich nicht. Aber ich hatte ein Transparent gemalt, auf dem stand, glaube ich: »Die Partei hat nicht immer recht«. Das muss ich noch zu Hause haben, zusammengerollt. Den Spruch hatte ich einen Tag vorher auf eine Tapetenrolle geschrieben, und ich war ungeheuer aufgeregt, als ich mit meiner Frau in der U-Bahn stand. Das erste Mal sollten wir hier so eine Demonstration machen und so ein Plakat ausrollen.
Im Nachhinein bin ich froh darüber, dass ich diese Wendezeit am Theater erlebt habe, in der ja das Theater eine ganz wichtige Rolle gespielt hat. Nicht nur bei der Vermittlung von sozialismuskritischen Stoffen, sondern einfach aufgrund der Tatsache, dass Theater ein Ort war, an dem sich Leute trafen, auch nach den Vorstellungen. Zum Beispiel nach »Diktatur des Gewissens«. Bei diesen vielen Gesprächen waren wir eigentlich der Katalysator, und die Leute redeten miteinander. Ich erinnere mich an das Pro und Kontra und wie das nun alles werden soll und was das jetzt für einen Sinn hat, wie das mit Glasnost und Perestroika und mit dem, was Gorbatschow macht, ist und mit Hagers Ausspruch, dass ich ja meine Wohnung nicht auch tapezieren muss, wenn mein Nachbar das tut ... Das war schon spannend, und es gab da sehr unterschiedliche Meinungen, zum Beispiel, ob nun ein Stück wie »Diktatur des Gewissens« von Schatrow gespielt werden sollte. Viele Kollegen sagten: »Nee, da wollen wir nicht mitspielen, das hat mit Theater überhaupt nichts zu tun.« Aber ich war der Meinung, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann eben das, und dann musst du mitmachen. Und ich habe da mitgemacht.
Die Nachwendezeit ist eigentlich an uns, mal abgesehen von der Kälte, den immer mehr zunehmenden Geldnöten und Sparzwängen, die dem Theater aufgedrückt wurden - also ich rede mal nur vom Deutschen Theater -, am spurlosesten vorübergegangen. Während andere Leute arbeitslos auf der Straße saßen, Betriebe schlossen, Investitionsgelder oder staatliche Zuschüsse kassiert und von mehr oder weniger kriminellen Leuten ins Ausland geschleust wurden und Gewinn brachten, konnten wir hier am Theater relativ ungehindert weiterarbeiten. (…)


Man müsste Lücken komponieren, Räume


Christian Steyer
Geboren 1948
Christian Steyer - Foto: Jörg K. Leopold
(...) Als ich noch sehr klein war, schrien die Kinder manchmal, wenn ich kam: »Paster, Paster«. Das ärgerte mich natürlich. Trotzdem merkte ich aber auch mein »Hinterland« und seinen Wert, der durch Reichtum an Tradition, an Wissen und an kulturellem Rückhalt guttat. Und dann kommen einem ja auch einzelne Sätze oder Begebenheiten im rechten Moment in den Sinn. Meine Mutter sagte so einen Satz, der sich mir eingeprägte: »Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.«
In der Nazizeit sind meine Eltern, weil sie zur Bekennenden Kirche gehörten, aus dem Pfarrhaus rausgeflogen, mussten ihre Möbel in einer leeren Manufaktur unterbringen, ehe sie irgendwo eine andere Wohnung bekamen. Dann zog der »Deutsche Christ« ins Pfarrhaus ein! Der Satz meiner Mutter »Mehrheit ist der Unsinn ...« hat mir Kraft gegeben, dieses Gefühl: dass man nicht isoliert sein soll, aber auch nicht zur Masse gehören muss, um sich gut zu fühlen. Mir ist sehr früh klar geworden, dass man auch eine andere Sicht und eine andere Meinung haben kann. Damit konnte ich gut leben.
Insofern hatte ich auch diese Erlösungsphantasie nicht, die mit der Wende einherging, wobei ich sehr froh war, dass es die DDR nicht mehr gab, dass einmal der Deckel hochgehoben wurde. Es ist ein Erlebnis zu bemerken, dass die Selbstsicheren und die Mächtigen gar nicht so mächtig sind. Auch ein gewisses Gefühl, von Schadenfreude will ich nicht reden, aber von Genugtuung. Das ist so, als ob eine Illusion beseitigt wird. Man hatte die DDR fast als unabänderlich und selbstverständlich hingenommen, aber auf einmal war alles aus. Im Nachhinein: Auch in diesem Staat hätte man sich - hätten sich viele - etwas mehr Zivilcourage leisten können. Wenn heute gesagt wird: »Ich konnte ja nicht anders!«, muss man zurückfragen: »Um welchen Preis? Bei Gefahr deines Lebens? Oder bei Gefahr einer gewissen Unannehmlichkeit? Oder bei Gefahr, einen anderen Bildungsweg nehmen zu müssen?« Es gab schon Leute, die sagten: »Gut, nehme ich eben einen anderen Bildungsweg.« Wer hat denn uns Menschen jemals versprochen, dass der Weg einfach und bequem durchs Leben oder ins Paradies oder sonst wohin führt?
Und wer sagt denn, dass ein schwieriger Weg, ohne dass man jemandem irgendwelche Schikanen oder Benachteiligungen wünschen würde, der schlechtere Weg ist? Wer sagt denn, dass Schwierigkeiten von Nachteil sind? (...)


In diesen letzten Jahren habe ich am meisten gelernt


Simone Frost
Geboren 1958
Simone Frost - Foto: Dieter Jaeger
(…) Der Fall der Mauer. Ich wohne in der Hannoverschen Straße, nur wenige Hundert Meter von der damaligen Sektorengrenze entfernt. Zu der Zeit besaß ich keinen Fernseher, mein Kind war relativ klein, ich hatte nur ein Radio und saß zu Hause. Dann rief mich eine Freundin an und sagte: »Du, ich glaube, man kann heute Abend nach West-Berlin gehen.« Und ich antwortete: »Wirklich?« Das Radio stand in der Küche, ich hörte alles und dachte: »Na ja, wird ja wohl so sein.« Und dann hörte ich auf der Straße plötzlich Krach, und dann johlten da Menschen, und da kam ein Scater über die Kreuzung gefahren, das war der Erste. Und ich sah aus dem Fenster und dachte: Jetzt geht hier das bunte Leben los, das ist ja toll. Gegenüber war damals noch die Ständige Vertretung der BRD, und ich wechselte immer zwischen Radio und Fenster und hörte, dass die Leute durch die Invalidenstraße gingen. Ich dachte, die sind alle verrückt, und ich bin wieder ans Fenster, und da kamen welche mit einer Flasche Sekt und wollten mit den Polizisten an der Ständigen Vertretung anstoßen, und die lachten so. Und dann rief plötzlich jemand: »Simone, kommst du mit?« Das waren Bekannte von mir, aber Marie-Luise schlief, und ich konnte nicht weg. Dann wurde das wie eine kleine Demonstration hier unten, der Grenzübergang in der Invalidenstraße war ja nicht weit.
Nachts um zwei rief mich mein Neffe Robert an - vom Kudamm. Ich schaute wieder aus dem Fenster und sah eine Frau, die hatte rechts und links zwei kleine Mädchen an der Hand, hübsch angezogen. Und erst dachte ich: »Was macht denn diese Mutter nur?« Dann wurde mir klar, dass sie ihre Kinder aus dem Bett geholt hatte, um dabei zu sein. Auf so eine Idee wäre ich nie gekommen. Na gut, da ereignete sich etwas, aber es war mir fremd, wie sich die Leute daran beteiligten. Ich hatte nicht einmal Lust, hinunterzugehen und zu gucken, ob es auch wirklich stimmt, und schon gar keinen Drang, loszulaufen. Darüber habe ich mich später gewundert. Ganz komisch. An diesem Abend dachte ich mir: Da gehörst du nicht dazu. Das muss auch mit der Arbeit zusammenhängen, dass man in der Lage ist, seine eigene Situation von außen zu betrachten und die Geschehnisse überhaupt zu beobachten. An Temperament fehlt es mir da überhaupt nicht, aber das Kind zu schnappen und loszulaufen ... Nee. Auch am nächsten Tag nicht. Ich hatte Probe, und einige hingen etwas müde in der Kantine herum, die waren nachts noch auf dem Kudamm gewesen. Aber was soll ich denn nachts da? Es hat bestimmt ein Vierteljahr gedauert, bis ich das erste Mal in West-Berlin war. Ich hatte auch gar keine Zeit.
Bei der großen Demonstration im November auf dem Alex saß ich vorm Fernseher. Mein Kind war klein, und ich konnte mich nicht in Gefahr begeben. Und das Ganze barg ein gewisses Risiko. In dem Fall hängt das sehr mit meiner Tochter zusammen. Als die ein Baby war, dachte ich: »Mensch, dir darf ja nichts passieren.« Bis dahin musste ich mich nur um mich kümmern und um nichts weiter. Aber mit dem Kind kam plötzlich noch einmal eine ganz andere Verantwortung auf mich zu. Es war mir unangenehm, auf mich aufpassen zu müssen. Man durfte bei den Proben nicht von der Bühne stürzen oder nicht überfahren werden, weil man plötzlich für jemanden komplett verantwortlich war. Also ich konnte da nicht hingehen. Ich hätte das Kind entweder zu Hause lassen oder mitnehmen müssen. Natürlich macht man das so, man nimmt es mit, damit es dabei ist. Aber das konnte ich einfach nicht. (...)


Ich bin der Haflinger des deutschen Films


Jörg Schüttauf
Geboren 1961
Jörg Schüttauf - Foto: Sandra Bergemann
(...) Noch einmal zurück zur Wende. Aus den Sommermonaten des Jahres 1989 sind mir diese Riesenreisezüge aus der Warschauer Botschaft in Erinnerung geblieben. Wir waren im Theater jeden Tag darüber erstaunt, dass wir immer noch so viele waren. Ich fand wirklich, dass es uns dort tierisch gut ging. Wir hatten einen spielerischen Beruf im wahrsten Sinne des Wortes und - wenn wir auch keine Reisefreiheit hatten - die Freiheit, zu denken und zu sagen, was wir wollten. Wir konnten es oben auf der Bühne aussprechen oder es zumindest zwischen den Zeilen so formulieren oder betonen, dass jeder wusste, was gemeint war. Und das war, glaube ich, auch ein bisschen gewünscht. Es war auch nicht jeder so doof, wie man es heute gelegentlich hinstellt, aber das spricht sich ja indessen auch herum.
Wie wenig ich von der DDR, den tatsächlichen Umständen und den Gedanken der Leute wusste, weil ich im goldenen Käfig Theater saß, zeigt vielleicht folgende Geschichte: Im Sommer 1989 wurde ich noch einmal zur Reserve in die NVA nach Stahnsdorf eingezogen. Damals drehte die DEFA den Film »Der Drache Daniel«, in dem ich spielte, deshalb sollte ich nur vierzehn Tage zur Armee gehen. Erst nach drei Tagen merkte ich, dass alle Reservisten nur zwei Wochen bleiben mussten. In dieser Zeit lernte ich in dieser Elfmann-Bude die grundlegende Meinung der DDR-Leute kennen. Ich dachte, zwei Mann müssten sagen: »Was wollen die denn alle da drüben? Sind die bescheuert?« Und der Rest dagegenhalten: »Richtig so, ist ja auch scheiße hier.« Zu meinem Erstaunen war es umgekehrt. Denn neun Mann meinten: »Was brauche ich denn einen Meister, der mir sagt, wann meine Mittagspause zu Ende ist? Sind die alle bescheuert? Wollen die arbeitslos werden?« Der zehnte - ich - und der elfte - Gärtner einer PGH - sagten: »Mal sehen. Vielleicht ist doch alles nicht so schlecht.« Das war noch einmal ein kleiner Nachdenker für mich und ich dachte: »Ich habe keine wirkliche Ahnung von dem Land, weil ich mich mit meinen fremden Texten in einem Theaterstück immer nur abgehoben auf der Bühne bewege und nicht in der Produktion oder bei der Kartoffelernte arbeite.« Also wir Schauspieler lebten auch in dieser explosiven Zeit immer noch in so einer Scheinwelt am Theater. Das ist heute auch nicht anders. Wir sitzen immer noch zwischen den Stühlen.
An dem Abend, als der Schabowski dieses große Missverständnis mit dem Reisegesetz formulierte: »Soweit ick weeß, jilt es ab jetzt!«, war ich nicht einer der Ersten, die an den Schlagbäumen standen und sagten: »Macht die Mauer auf!«, sondern ich gehörte zu den vielen, die dachten: »Na, morgen werden die Ämter voll sein, weil alle versuchen, ihren Pass zu bekommen.« (...)


»Ich kleine Wurst drehe jetzt mit dem großen Götz George!« Das war unglaublich


Anja Kling
Geboren 1970
Anja Kling - Foto: Manfred Thomas
(...) Als ich neunzehn Jahre alt war, kam die Wende. Ich hatte das Abitur in der Tasche. In der elften, zwölften Klasse begriff ich, in welchem Land ich eigentlich lebe, was hier schiefläuft und was mir nicht gefällt. Mit achtzehn Jahren fragte ich mich das erste Mal, ob ich immer hier leben will. Natürlich war das sehr davon beeinflusst, dass im Sommer 1989 die große Fluchtwelle begann und von meinen Freunden nach dem Sommer nur noch die Hälfte da war. Man konnte sich diesen Ereignissen im Grunde genommen gar nicht entziehen. Ich versuchte das lange und dachte: Nee, nee, meine Eltern sind hier, meine Familie ist hier, und es ist auch richtig, dass ich hier bin. Also ganz unabhängig von irgendwelchen politischen Gedanken und Fragen, das war mehr eine familiäre Entscheidung. Ich wohnte damals auch schon in Berlin und erlebte hautnah, was auf der Straße passierte. Ich drehte in dieser Zeit in Dresden den »Polizeiruf« »Tödliche Träume« und war immer hin- und hergerissen zwischen diesem DDR-Fernsehkrimi und den Ereignissen in Berlin im Oktober 1989. Dann beschloss ich fünf Tage vor dem Mauerfall, dieses Land zu verlassen, und zwar am 4. November.
Ich würde ja heute gern erzählen, dass ich politisch unheimlich aktiv war und aus politischen Gründen das Land verlassen habe. So war es aber nicht. An diesem 4. November hatte ich gerade die Wohnung eines Freundes ausgeräumt, der seinen Ausreiseantrag an diesem Tag genehmigt bekam und binnen vierundzwanzig Stunden die DDR verlassen musste. Wir versuchten ganz schnell, die wichtigsten Dinge aus seiner Wohnung in unsere zu schleppen. Ich weiß komischerweise noch, dass ich Reis gekocht und Schnitzel gebraten hatte, weil ich dachte, wir müssten jetzt etwas essen. Da klingelte es an der Tür, und meine Schwester stand heulend vor der Tür und fragte mich, ob ich heute schon Fernsehen gesehen hätte. Natürlich nicht, weil ich ja diese Wohnung ausgeräumt hatte. Wir machten den Apparat an und da zeigten sie auf jedem Kanal, dass die Tschechoslowakei die Grenze zur BRD aufgemacht hatte und Tausende DDR-Bürger einfach durchwinkte. Wir dachten uns, darauf wird die DDR-Regierung reagieren müssen und ihrerseits die Grenze zur Tschechoslowakei schließen, und wir werden dann gar nicht mehr herauskommen.
Nach Ungarn und Bulgarien konnten wir schon nicht mehr. Somit wären wir wirklich in diesem kleinen Land eingesperrt gewesen. Meine Schwester sagte, dass sie jetzt auf der Stelle in die CSSR fährt, mein Freund schrie: »Wir auch!«, und der Freund meiner Schwester ebenso. Ich musste mich ad hoc entscheiden, ob ich meine Schwester oder meine Eltern verliere. Ich dachte, zwei zu zwei ist irgendwie gerechter als drei zu eins. Wenn meine Schwester und ich zusammen sind und meine Eltern ebenfalls, dann hat jeder noch einen, an den er sich klammern kann. Das war der ganze Grund, weshalb ich mich an diesem Tag in den Trabi gesetzt habe. Die paar Kröten, die wir hatten, haben wir ganz schnell in tschechische Kronen umgetauscht und sind losgefahren. Dabei muss ich sagen, dass ich in Höhe Dresden schon in Tränen aufgelöst war und immer dachte: Was mache ich denn da? Und ich schwöre es, ich konnte damals überhaupt noch nicht abschätzen, wie sehr ich unter der Trennung von den Eltern leiden würde. Ich war erst neunzehn, und ich hing sehr an meinen Eltern. Das ist bis heute so. Damals war ich noch sehr kindlich.
Diese fünf Tage, in denen ich in diesem Auffanglager in Wackersdorf in Bayern saß und mir überlegte, was ich da gerade getan hatte, waren wie fünf Jahre, die nahmen gar kein Ende. Wir waren in einem Achtbettzimmer mit Doppelstockbetten untergebracht, das war eine ehemalige Kaserne, und da saß ich oben ohne einen Pfennig Geld auf dem Bett. In diesen Tagen war ich sehr weinerlich. Meine Schwester, die sich viel stärker gab, sagte: »Nun reiß dich doch mal zusammen, wir sind doch nicht gestorben, da gibt es ganz andere schlimme Fälle, wir sehen Mama und Papa schon wieder. Wir werden telefonieren und uns schreiben und wir sind, wie gesagt, nicht tot. Jetzt hör endlich auf zu heulen.« (...)
Pressestimmen zu "Der ungeteilte Himmel. Schauspieler aus der DDR erzählen"